Dezember 2020
Über die (Un-) Zuverlässigkeit von Tierversuchen
Ein Aufruf an die Kolleginnen und Kollegen
Am 28. Januar 2020, zum 40. Geburtstag der Vereinigung Ärztinnen und Ärzte für Tierschutz in der Medizin hielt Thomas Hartung, Arzt, Biochemiker und Mathematiker eine eindrucksvolle Vorlesung „Brauchen wir wirklich noch Tierversuche“ an der Pädagogischen Hochschule Zürich[1] Hartung, der selbst einige Alternativmethoden zu Tierversuchen entwickelte und ihre behördliche Anerkennung vorantrieb, schilderte sehr eindrücklich die Hindernisse, die es bei der Anerkennung von Alternativen gibt. Sein noch an der Universität Konstanz entwickelter Pyrogentest (an Zellkulturen statt an Kaninchen) wurde 20 Jahre nach der ersten Publikation 1995 erst 2009 behördlich anerkannt (FDA) und auch ins Europäische Arzneibuch aufgenommen (2010), trotzdem stieg seit dieser Anerkennung die Anzahl der verwendeten Kaninchen um weitere 10.000 auf 170.000 allein in Europa. Was wir brauchen, ist also nicht nur Forschung und Entwicklung von Alternativmethoden, sondern ihre Umsetzung. Dazu braucht es Überzeugungsarbeit und adäquate Publikation der Ergebnisse. Daher fördern die Ärztinnen und Ärzte die Zeitschrift ALTEX, die sich zum wichtigsten Organ der Alternativmethoden weltweit entwickelt hat. Aber es sind nicht nur Forscher an Universitäten und in der Industrie, die Ersatzmethoden zum Tierversuch propagieren. 26 Forscher von Zulassungsbehörden in den USA und Kanada erhielten 2009 den renommierten Ehrenpreis der Doerenkamp-Zbinden Stiftung für ihr bahnbrechendes Konzept „Toxicology in the 21th Century“, kurz auch Tox21c genannt. Sie stellten fest, dass Tierversuche „langsam, teuer und klinisch nicht relevant“ sind. Die amerikanisch/kanadischen Zulassungsbehörden engagieren sich nun seither, diese Idee auch in den anderen Nationen zu verankern, denn es müssen weltweit alle mitmachen. Und, von der Seite der Ärztinnen und Ärzte aus gesehen, muss natürlich auch gesagt werden, was langsam, teuer und klinisch nicht relevant ist, kann auch nicht ethisch zu rechtfertigen sein. 2013 publizierte Thomas Hartung seinen vielfach zitierten Aufsatz in ALTEX „Look back in anger – what clinical studies tell us about preclinical work“. Nur 10% der im Tierversuch erfolgreich und vielversprechend getesteten Medikamente müssen im klinischen Test nicht sofort zurückgezogen werden. Spätere Untersuchungen ergaben, dass es kaum 5% sind. Auch Pandora Pound und Michael B. Bracken publizieren 2014 im renommierten British Medical Journal (Impact Factor > 30 be) eine merkenswerte Studie „Is animal research sufficiently evidence based to be a cornerstone of biomedical research?“[2] Sie schreiben, dass sich die Forscherkultur gewandelt hätte und Tierversuche nicht weiter immun gegen Kritik sein dürften. Die momentane Situation sei unethisch, weil vor dem Hintergrund schlechter Studien und unzuverlässiger Ergebnisse jegliches Leiden von Tieren seine moralische Rechtfertigung verliere. Nicht zuletzt die Entwicklungen und Erkenntnisse der Epigenetik fliessen immer noch viel zu wenig in die wissenschaftlichen Überlegungen ein. Vielleicht, weil es das Fach Epigenetik zur Zeit der Ausbildung heutiger Tierexperimentatoren noch nicht gab? Dann wäre aber schnellstens Fortbildung angesagt. Thomas Hartung hat es dereinst auf den Punkt gebracht, wir Menschen sind keine 70 kg Ratten[3]. Die stark ansteigenden Zahlen gentechnisch veränderter Versuchstiere in den letzten Jahren lässt sich nur damit erklären, dass es offenbar Forscher gibt, die die Epigentik noch nicht so recht erfasst haben. Dass dann auch Zulassungsbehörden mit diesem Mangel an Einsichten die Generierung eines unnützen Mausmodells nach dem anderen bewilligen, ist kein Wunder. Wer heute noch behauptet, Mäuse und Menschen seien zu etwa 90% genetisch identisch, hat es einfach nicht begriffen. Hier ist eine kleine Auswahl an Lesestoff zum Thema:
Ergeben sich für uns Ärztinnen und Ärzte für Tierschutz in der Medizin aus all diesen Fehlentwicklungen (oder nennen wir es positiver – zu langsamen Fortschritten) Konsequenzen? Gerade zu Pandemiezeiten? Lena Smirnova und Thomas Hartung konnten mit den von ihnen entwickelten (in vitro) Minibrains zeigen, dass Covid-19 eben nicht einfach nur eine Lungenerkrankung ist, sondern auch das Hirn befallen kann, sollte die Bluthirnschranke nicht richtig funktionieren[4]. Bei ungeborenen im ersten Schwangerschaftsdrittel ist sie noch gar nicht ausgebildet. Die Amerikanischen Gesundheitsbehörden haben deshalb innerhalb von 24 Stunden nach Erscheinen dieses Artikels eine Risikowarnung für schwangere Frauen herausgegeben. Es gibt hoffentlich bald einen wirksamen Impfstoff. Einen Impfstoff, der nicht Jahr für Jahr Schwankungen in der Wirksamkeit unterliegt wie der Grippeimpfstoff. Influenzaviren ändern ihre Strategien und damit Serotypen ja ständig. Nahezu jedes Jahr „überfällt“ ein anderer Serotyp die Menschen. Welcher es ist und wogegen geimpft werden muss, wird dann erst mit Tierversuchen festgestellt. Was viele nicht wissen: am Frettchen, weil diese putzigen Tiere Grippesymptome zeigen, ähnlich wie Menschen. Und das dauert und es ist auch schon passiert, dass man erst am Ende der Grippewelle weiss wogegen man hätte impfen sollen. Aufruf an Ärztinnen und Ärzte: Verlangt bitte die Entwicklung von Arzneimitteln ohne Tierversuche. Weil ihr einfach gute Ärztinnen und Ärzte sein wollt. Dr. med. vet. Dr. habil. Franz P. Gruber [1] Die Universität Zürich wollte Professor Hartung von der Johns Hopkins Universität Baltimore und Universität Konstanz keinen Raum zur Verfügung stellen. Die Vorlesung wäre nicht Interesse der Universität, hiess es in der Absage. |